Wenn Schmerz zum Leiden wird – und umgekehrt. Eine kurze Leidensgeschichte.

Zusammen mit meinem Vater war ich 1990 auf einer mehrtägigen Bergwanderung unterwegs. Wir waren in Österreich am Steinernen Meer unterwegs und planten insgesamt auf drei Berghütten zu übernachten.

Mein Vater dachte immer, mir würde das nicht wirklich gefallen mit ihm dort oben zu wandern, aber da täuschte er sich. Es bereitete mir viel Freude und ich war von den Ausblicken und der Natur immer sehr angetan und ich freut mich, Zeit mit ihm zu verbringen. Doch das ist ein anderes Thema.

Wir übernachteten auf einer der Hütten und am nächsten Morgen ging es über ein Felsenmeer erst einmal eine Weile bergab. Einer der großen Steine gab nach, ich kippte vorne über und landete nach einem Purzelbaum direkt auf meinen Füßen wieder. Ui, das ging ja nochmal gut.

Ich überprüfte meinen Körper und es war nichts weiter zu sehen. Nur am rechten Schienenbein hatte ich eine kleine Wunde.

Wir gingen zu einem wunderschönen kleinen Fluß, in dem wir unsere qualmenden Füße abkühlten. Bei der Gelegenheit schaute ich mir die Wunde genauer an und dachte mir „Das ist ja weiß, das wird doch nicht mein Knochen sein?“

Nach kurzem Abwägen entschieden wir uns, den Trip abzubrechen.

Einige Tage später entzündete sich die Wunde und wurde dick.

Ich kürze hier die Story hier nun ab. Ich hatte mir ein Stück knochen herausgebrochen und das Teil löste sich erst Wochen später ab. Die Folge war, dass ich ins Krankenhaus kam und der Knochen ausgehölt wurde. Übrig blieb eine fünf D-Mark große, offene Wunde, die nicht genäht werden konnte, sondern von innern her zuwachsen musste.

Warum erzähle ich das alles?

Durch dieses Erlebnis begegnete ich körperlichem Schmerz auf eine sehr intensive Weise. Denn für mehrere Wochen musste ich jeden Tag in die Ambulanz des Krankenhauses, wo mir mit einem scharfen Löffel die Wunde am oberen Teil wegegkratzt wurde. Dies war notwendig, da sie eben von innen zuwachsen musste, der oberer Teil aber schneller wächst. So wäre ein Hohlraum entstanden und um das zu verhindern, wurde täglich geschabt. Und das war extrem schmerzhaft, irgendwann halfen auch die Schmerzmittel nichts mehr.

So fing ich an, mich zu fragen: Was ist Schmerz? Was passiert da in und mit mir? Warum tut Schmerz weh? Was kann ich tun, damit es nicht schmerzt?

Denn es war so: Kaum hatte ich mich auf die Liege gelegt, wusste ich, gleich kommt der scharf Löffel – und schon spürte ich Schmerzen und litt unter ihnen. Mein Bein versteifte sich und der Schmerz ging durch und durch – obwohl er noch gar nicht mit dem Scharben angefangen hatte.

Faszinierend.

Schmer oder Leid?

Nun, 25 Jahre später, habe ich erneut eine schmerzhafte Erfahrung gemacht. Und aufgrund meiner Erfahrungen weiß ich nun, was es heißt, zu leiden und was es heißt, Schmerzen zu erfahren.

Donnerstag Nacht bekam ich auf einmal große Schmerzen im Rücken auf der rechten Seite. Es wurde immer schlimmer und schlimmer, so dass ich den ärztlichen Notdienst rief. Diagnose: Verdacht auf Nierenkolik. Da wusste ich noch nicht, was das genau bedeutet, ich wusste nur, es tat höllisch weh. Der Arzt orderte einen Krankentransport und verschwand.

Die Schmerzen wurden immer schlimmer.

Doch da war kein Leid.

Unfassbar starke Schmerzen, doch ich litt nicht unter den Schmerzen.

Ich konnte kaum sprechen und mich kaum bewegen. Ich tat nichts, um die Schmerzen zu verstecken.

Ich biss die Zähne zusammen und atmete hörbar tief ein und aus.

Als der Krankentransport kam, riefen sie einen Notarzt dazu, damit er mir Schmerzmittel gibt. Ich zitterte am ganzen Körper, ich ließ geschehen. Es war wirklich faszinierend.

Ich blendete um mich herum alles aus, nur die wichtigen Informationen nahm ich auf.

Und in all dem war kein Leid, keine Angst, kein Panik.

Ich beschreibe das, weil ich davon so fasziniert und überrascht war zugleich. Mein Körper-Warn-System funktionierte und der Körper tat, was er tun musste.

Am Ende stellte sich heraus, dass ich Nierensteine habe und einer davon im Harnleiter festsaß.

Am nächsten Tag, Freitag der 13., wurde er herausoperiert und mir ein „DJ-Katheter“ verlegt, der in drei bis vier Wochen wieder entfernt wird.

Schmerz kommt, Schmerz geht.

Und so wurde mir der Unterschied zwischen Schmerz und Leid noch einmal ganz deutlich.

Schmerz ist gut, weil er mich warnt. Er will mein (über)leben sichern. Ohne Schmerz würden wir uns selbst verletzten und umbringen – und es gar nicht merken!

Es ist gut, dass es Schmerz gibt.

Der Schmerz kommt, der Schmerz geht.

Wenn ich Schmerz vermeiden möchte, erzeuge ich Leid.

Wenn ich alten Schmerz in Gedanken erneut durchlebe, erzeuge ich Leid.

Wenn ich Opfer meiner Umstände bin, erzeuge ich Leid.

Leiden ist quasi ein „virtueller“ Schmerz.

Leiden ist, wie wenn ich in einer Wunde rumpule und mich darüber beschwere, dass es schmerzt.

Leiden ist, wie wenn ich mir selbst den Hals zudrücke und mich wundere, dass ich keine Luft mehr bekomme.

Leiden erzeugt nicht greifbaren Schmerz, welches das Leiden weiter verstärkt.

Beobachte dich einmal, wo und wie du alles Schmerz vermeiden möchtest. Wie du ihm aus dem Weg gehst – obwohl da noch gar kein Schmerz ist. Und wie diese Vermeidungsstrategie dich zum Opfer deiner eigenen Gedanken macht. Und das wiederum ein mehr oder weniger spürbares Leiden erzeugt.

Wenn ich mich in meinem Leid, in meinen Opfergeschichten verliere, erzeuge ich jede menge „virtuellen“ Schmerz in mir.

Daher kann ich mein Leiden nur beenden, wenn ich wieder in die Wirklichkeit zurück komme.

Das Leiden ist der Ruf deiner Seele, damit du wieder zu dir zurück kommst.

Wenn du leidest, hast du dich und das Leben verlassen.

In Gedanken und Taten.

Komm wieder zu dir zurück.

Komm wieder zurück ins wirkliche Leben.

Du bist hier.

Heute.

Jetzt.

Atme.

Schmerz kommt, Schmerz geht.

Du bleibst.

Marius Schäfer

Marius Schäfer

Persönlichkeits-Coach

Durch meine eigene Lebenskrise habe ich begonnen, mich damit auseinanderzusetzen, wie ich positive Veränderung in meinem Leben hervorrufen kann. Meine Erfahrungen teile ich hier mit dir.

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